Buchstabenblut

Eine Kurzgeschichte zu schreiben ist eine Kunst für sich. Eine ordentliche Handlung auf wenigen Seiten zu präsentieren, die unterhaltsam und auch noch spannend ist, gelingt nicht jedem Autor. Mir persönlich fällt das außerordentlich schwer und klappt nur in seltenen Fällen. Umso größer ist die Bewunderung für eine Kunstform, wenn man weiß, wie viel Können sie erfordert.
Wer diese Kunst außergewöhnlich gut beherrscht ist Eva von Kalm. Zufälligerweise hältst du ja gerade ihr Buch in Händen und zu dieser Kaufentscheidung kann ich dich nur beglückwünschen.
Wenn Eva bei Lesungen aus ihren Geschichten vorträgt, dann hänge ich an ihren Lippen und denke mir: »Ich will mehr hören!«
Eva erreicht in kurzer Zeit eine Tiefe in ihren Erzählungen, für die andere Kollegen ein ganzes Buch brauchen. Man nimmt Anteil an ihren Charakteren, wie an einem geliebten Menschen.
Umso enttäuschter bleibt man nach einer Lesung zurück, wenn sie die Geschichten nicht zu Ende ließt. Aber eine gute Geschichtenerzählerin verlässt ihre Zuhörer immer mit dem Verlangen nach mehr.
In Buchstabenblut überzeugt für mich jede Geschichte auf ihre individuelle Art und Weise. »Der Pfeil«, fühlt sich außerdem wie der Prolog zu einer Buchreihe an, die ich noch gerne lesen würde. (Das soll hier natürlich keine subtile Aufforderung sein, dieses Projekt in Angriff zu nehmen, es ist eher der berühmte Wink mit dem Zaunpfahl.)
In den anderen Geschichten bleiben für mich jedoch keine Wünsche offen. Eva bringt den Mut auf, ihre Leser auch mal ratlos, nachdenklich oder selbst bis ins Mark erschüttert zurückzulassen und bricht die Tragik nicht auf ironische oder humoristische Art.
Es bleibt mir nichts weiter also dir so viel Freude mit dieser Anthologie zu wünschen, wie ich sie hatte. Von dieser großartigen Autorin dürfen wir weiterhin Phantastisches erwarten.

Lucian Caligo 21.10.2019

Cover der Kurzgeschichtensammlung Buchstabenblut

Leseprobe

Ilunas Licht

Ihre Ohren merkten es zuerst, noch vor ihren Augen: Die Dämmerung kam. Mit ihr wurde das Kreischen leiser, das Hämmern und Schlagen, abgelöst vom Zittern der Erde, als sie sich auftat, um die Gräuel der Nacht zu verschlucken. Alayna öffnete den Mund, ließ den klaren Signalton erschallen, der sich über das Feld vor dem Tempel ausbreitete und ihre Mannen zu einem letzten Aufbäumen aufrief. Mit dem Ton schickte sie Kraft hinaus und lächelte schwach, als sie hörte, wie Kriegsrufe hallten und Schwerter klirrten. Sie taumelte, fing sich aber im letzten Moment mit Hilfe des weißen Stabes aus Robinienholz, den sie immer bei sich trug. Dann endlich fielen die Sonnenstrahlen auf das Feld und verjagten die grässlichen Kreaturen. Alayna atmete auf und eilte nach innen, um nach den Frauen und Kindern zu sehen, die zitternd warteten, dass ihre Männer zurückkehrten, die Nacht überstanden hatten. Aufschub, dachte Alayna. Wieder ein Tag Aufschub.

Vor zehn Nächten hatte es angefangen. Sie hatte draußen im Mondschein ihr Mitternachtsgebet gesprochen, als das erste Monster aus der Erde gekrochen kam. Es ging auf vier Beinen, schwarz war es von oben bis unten, mehr Gerippe als Wesen. Der Rücken war gekrümmt, die Wirbel stachen heraus wie Stacheln. Die Schnauze war lang gezogen, es erinnerte alles an einen abgemagerten, verkrümmten, schwarzen Hund, nur voller Grauen. Das Widerlichste waren die violett-glühenden Augen, die weithin durch die Nacht sichtbar waren. Erst als die Kreatur näher gekommen war, hatte Alayna die schwarz glänzende Haut sehen können, die ihr schleimig vorgekommen war, bis ihre Finger den ersten Kontakt gehabt hatten. Glatt, ledergleich und kalt, wie es bei keinem Lebewesen sein sollte. Trugen denn nicht alle das Lebensfeuer in sich? Unterschied das nicht die Lebenden von den Toten? Das Feuer, das in ihnen allen brannte?

Verwundert hatte Alayna in dieser ersten Nacht dort gestanden, ihr Gebet unterbrochen und hinausgestarrt. Was machte eine solche Kreatur hier?

Doch weiter waren ihre Gedanken nicht gekommen, denn das Monster, das bis eben noch die Nase auf dem Boden gehabt hatte, drehte sich in ihre Richtung und rannte los. Es war schnell, trotz der verzerrten Gestalt, hatte eine federnde, sprunghafte Gangart und Alayna erreicht, wo sie noch erstaunt dastand. Scharfe Krallen rissen ihr Gewand auf der Brust auf und hinterließen mehrere Kratzer, die tiefer gewesen wären, wenn Alayna nicht den dickeren Stoff getragen hätte. Die Nächte waren kälter geworden in den letzten Tagen.

Einen zweiten Sprung landete die Kreatur nicht. Alayna hatte sich gefangen und schwang ihren Stab. Ein kräftiger Aufprall schleuderte das schwarze Wesen weit weg. Es rappelte sich hoch, kreischte gänsehauterzeugend und krümmte sich noch mehr. Neben ihm erschienen fünf weitere Kreaturen aus der Erde heraus. Alayna zögerte nicht, sondern rannte ins Innere des Tempels. Dort schlug sie den schweren Gong, der noch nie zu ihrer Lebenszeit erklungen war. „Wacht auf. Wir werden angegriffen“, sang er. Das wusste jeder, der im Tempel der Mondgöttin lebte. Für einen Moment spürte sie ihren Bruder an ihrer Seite, sah das Grinsen auf seinem Gesicht, als sie gemeinsam den dröhnenden Ton erschallen ließen. Doch das Bild verflog, ihr Zwillingsbruder weilte seit Jahren nicht mehr mit ihr im Tempel. Manchmal glaubte sie, dass die lange Zeit, die sie getrennt verbracht hatten, auch das Band tiefer Verbundenheit zwischen ihnen gelockert hatte.

Nathaniel erschien als Erstes an ihrer Seite. Damit hatte sie gerechnet, er war der Anführer der Mondkrieger, sehr gewissenhaft und im Herzen ein wahrer Beschützer.

„Was ist es?“, fragte er, die Aufregung kaum verborgen.

„Kreaturen der Erde“, hauchte Alayna. „Sie sehen aus wie Schwarzsklaven, Brogdeas Diener.“ Sie hatte noch nie in ihrem Leben welche da draußen in der Wirklichkeit gesehen, aber in den Büchern des Tempels fanden sich Zeichnungen.

„Wie haben sie uns gefunden?“ Nathaniel war schockiert.

„Ich weiß es nicht.“ Alayna hörte ihre eigene Furcht. Das war die größte Gabe der Schwarzsklaven. Angst sähen. Die Priesterin schämte sich, sie sollte in der Lage sein, sich davor zu schützen. Doch ihr ganzer Körper zitterte und war von kaltem Schweiß bedeckt, der sich auf der Brust mit ihrem Blut mischte.

„Ich werde meine Krieger nehmen und sie vernichten“, grollte Nathaniel. Die Furcht Alaynas machte ihn wütend. Nicht auf die Priesterin, sondern auf die schwarzen Kreaturen.

Alayna nickte dankbar und verschwand im Tempelinneren. Sie nahm sich ein neues Gewand, bedeckte ihre Blöße und tauchte wieder auf, die Furcht tief nach innen verbannt. Dann begann sie, die Menschen im Tempel zu organisieren. Jeder hatte seine Aufgabe, es wurde Zeit, sich zu wehren.

Nathaniels Krieger kehrten im Morgengrauen zurück, viele von ihnen verletzt, teilweise schwer. Susan und Crea, die beiden Heilerinnen des Tempels, kümmerten sich um sie.

Alayna half ebenfalls, wo sie konnte, suchte dann aber das Gespräch mit Nathaniel. „Ist es vorbei?“, erkundigte sie sich. Nathaniel schloss die Augen und nickte. An seiner rechten Hand fehlten drei Finger, die Wunde stank. Alayna nahm sich eine Schüssel mit frischem Wasser und wusch die Verletzung aus. „Dann ist es gut.“

In der folgenden Nacht begann das Kreischen schon mit dem Untergang der Sonne. Die Kreaturen konnten erst die Oberfläche der Erde betreten, als die Dunkelheit gekommen war, doch ihre Zahl war gewachsen. In dieser Nacht kämpfte Alayna an der Seite der Mondkrieger, gab ihnen die Kraft der Göttin weiter. Der Kampf war hart und als der Morgen kam, hatten sie drei der zwanzig Männer verloren. Einzig und allein das unbestimmte Gefühl, dass etwas Vertrautes sich näherte, ließ sie durchhalten. Es war als würde etwas in ihrem Inneren an Kraft gewinnen.

Über Tag kamen Familien aus den umliegenden Dörfern herbei. Der Tempel war nicht der einzige Ort gewesen, an dem der Angriff stattgefunden hatte.

„Es ist hundertfünfzig Jahre her, dass Brogdea ihre Diener ausgesandt hat. Was ist nur geschehen?“, fragte Nathaniel, leise, damit nur Alayna ihn hörte.

„Ich weiß es nicht. Aber wir müssen damit rechnen, dass es weitergeht“, flüsterte sie zurück.

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